Kapitel 5: Veränderung
Sie hatten sich mehrmals durch das Geäst gekämpft und Eleonora hatte ihrem Bruder den Weg zur Lichtung so lange gezeigt, bis er ihn auswendig konnte. Nach kurzer Zeit hatten die beiden herausgefunden, dass auch er den Übergang problemlos passieren konnte, sogar ohne ihre Hilfe. So hatten sie sich darauf geeinigt, dass er erstmal alleine an dem Baumhaus bauen wollte und ihr Bescheid sagen würde, wenn er ihre Hilfe bräuchte - wozu es aber bisher nie gekommen war. Er war schneller und arbeitete besser allein und konnte so zumindest ohne schlechtes Gewissen hemmungslos fluchen, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Er stürzte sich mit Leib und Seele in sein neues Projekt und schien das Heimwerkern sehr zu genießen, denn er kam und ging immer mit einem zufriedenen Lächeln.
Er werkelte jetzt schon seit zwei Wochen herum ohne Eli auch nur ein Wort verraten zu haben wie der aktuelle Stand war. Sie war so aufgeregt, dass sie kaum stillsitzen konnte, deswegen entschloss sie sich an diesem Morgen dazu ihm heimlich zu folgen und einfach einen kurzen Blick auf das Baumhaus zu werfen. Sie streifte ihre leichten Stiefeletten über, denn mit diesen konnte sie am leisesten laufen, was natürlich Voraussetzung dafür war, wenn man unbemerkt hinter jemandem herschleichen wollte, und nahm ihren gewohnten Weg einige Minuten nachdem ihr Bruder das Haus verlassen hatte.
Flämmchen schlief noch in ihrem Schmuckkästchen, Eli hoffte, dass ihre kleine Freundin es ihr nicht allzu übel nehmen würde, dass sie sie nicht mitgenommen hatte. Aber die kleine Candelatia hatte, wenn ihr langweilig war, ständigen Redebedarf. Was wiederum nicht nützlich war bei ihrem Vorhaben. Sie würde ihr einfach eine Hand voll von den violetten Beeren mitbringen, die an den Büschen um den Teich herum wuchsen. Das waren zur Zeit ihre Lieblingsbeeren und es gab sie nur dort in der Parallelwelt. Sie sahen ein bisschen aus wie übergroße Johannisbeeren, wuchsen nur nicht so vielsamig wie diese. Der Geschmack glich eher dem der Blaubeeren, aber Eleonora hätte es nicht genauer beschreiben können.
Den ganzen Weg hing sie den Gedanken über die Beeren nach und wäre beinahe mitten auf die Lichtung gelatscht, wenn sie nicht kurz vorher einen rüden Fluch über die Vorfahren irgendeines Werkzeugs vernommen hätte, der sie daran erinnert hatte, dass sie ja eigentlich gerade in heimlicher Mission unterwegs war. Erschrocken hüpfte sie hinter den nächstgelegenen Baum und schlinzte vorsichtig an dessen Seite vorbei um einen Blick auf das Baumhaus zu erhaschen. Der Anblick der sich ihr jetzt bot verschlug ihr vollkommen die Sprache. Ihr klappte buchstäblich die Kinnlade herunter als sie das perfekte, kleine Baumhaus sah, dass ihr Bruder von einem Ast aus bearbeitete. Sie wollte ein Stück näher heranschleichen um das Prachtwerk in voller Ansicht betrachten zu können. Dummerweise lag genau dort, wo sie ihren Fuß hinsetzte, ein kleiner Ast, der lautstark zerbrach, als sie drauftrat. Mit großen Augen starrte sie nach unten und danach in Richtung Etienne, der ruckartig den Kopf drehte und sie im selben Moment entdeckte.
"Eli! Och nein!" rief er und ließ den Hammer sinken, mit dem er zuvor einen der Fensterrahmen bearbeitet hatte. "Wir hatten doch gesagt, dass ich Dich hole, wenn ich Deine Hilfe brauche..." Er kletterte geschickt vom Baum und lief ihr grimmig dreinblickend entgegen. Schuldbewusst hatte sie den Blick gesenkt und kam hinter den Büschen hervor auf die Lichtung gelaufen.
"Du hast mich auf die Folter gespannt, ich war so neugierig... Tut mir leid..."
"Ich wollte Dich überraschen, wenn es fertig ist. Du hättest nur noch bis morgen warten müssen..."
Sie hob den Kopf und sah ihrem Bruder in die Augen. "Ich weiß, dass es keine wirkliche Entschuldigung ist, aber ich bin auch jetzt schon total überrascht!"
Er presste die Lippen aufeinander und schnaubte. Einige Momente standen sie still da, dann rüttelte er sanft an ihrer Schulter. "Na gut, Du hast ja Recht. Komm, dann zeig ich Dir mal alles und Du kannst hier und da noch mithelfen dem Ganzen den letzten Schliff zu verpassen!"
Sie wusste nicht wie, aber er hatte aus ihrem groben Grundbau ein echtes, kleines Meisterwerk geschaffen. Die Form war erhalten geblieben, wirkte nur alles in allem deutlich stabiler und hochwertiger.
Um hineinzukommen musste man an einer Strickleiter hinaufklettern, die man oben zusammenrollen und festbinden konnte, so dass niemand anderes einem ins Haus folgen konnte. Der erste Durchgang war mit einem klappernden Holzperlenvorhang verziert, darauf folgte eine Art kurzer Flur an den die eigentliche Eingangstür grenzte. Hier konnte man gut Schuhe abstellen oder Getränke kühlen, fand sie und fing direkt an zu planen. Das Innere des Häuschens bestand nach wie vor aus einem Raum, der aber deutlich besser aufgeteilt war und insgesamt größer wirkte. Außerdem hatte ihr Bruder ihr eine zweite Etage geschaffen, die sie auf ihrer gedanklichen Liste direkt als Schlafbereich deklarierte. "Ich würde sagen hier kommt eine kleine Küchenzeile hin. Das Fenster, das ich noch einsetze, kann man dann super öffnen, wenn man beim Schnibbeln oder Kochen frische Luft braucht." sagte Etienne und riss sie aus ihren Gedanken. Er deutete auf die Wand vor ihnen, auf die man sah, wenn man den Raum betrat. Dann drehte er sich ein Stück und zeigte in die Ecke: " Und hier vielleicht ein Esstisch oder eine gemütliche Sitzecke. Die Wand könnte man außerdem mit Regalen oder Schränken pflastern, wo du Klamotten oder Bücher oder was Du halt so brauchst reinpacken kannst." Er drehte sich noch ein Stück und zeigte auf die nächste Wand, in der ein großes Loch prangte, was auch Eli in ihrem Erstversuch als Fenster eingeplant hatte. "Hier würde ich an Deiner Stelle einen Schreibtisch hinstellen. Es gibt kaum was Schöneres als einen sonnigen Arbeitsplatz." Er zwinkerte ihr zu und ging zu einem schlichten Stützbalken, der genau in der Mitte des Raumes prangte. "Siehst Du die Holzstücke hier?" fragte er eher rhetorisch und deutete auf die quer an den Pfeiler angebrachten Stiegen. "Die sind Deine Leiter ins Obergeschoss. Komm!" er kletterte hinauf und grinste ihr über die Kante hinweg zu. "Das hier ist mein Lieblingsplatz. Wenn Du hier ein paar Matratzen hinlegst kannst du eine supergemütliche Schlaflandschaft schaffen. Ein Haufen Kissen dazu.... perfekt!"
Als sie oben angekommen war lag er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Boden.
"Oh, das Fenster!" rief sie erfreut aus. Das einzige Fenster, dass schon eingebaut war, war dieses. Es war rund und die Sonne schien bezaubernd durch das Blattwerk und die Scheibe hindurch. Sie hatte den perfekten Blick auf unendliches Grün und hörte das sanfte Rauschen des Windes, der durch die Baumkronen tanzte und die Blätter streichelte. Dass sie hier großartig schlafen würde, bezweifelte sie nicht. Sie ging in leicht gebückter Haltung, die Schräge der Decke ließ es nicht anders zu, zu dem Fenster und betrachtete die Aussicht. "Da vorne ist im Übrigen noch eine kleine Luke, durch die Du aufs Dach kommst!" erwähnte Etienne beiläufig. "Eine Luke?" Eli drehte sich ruckartig um und stieß sich den Kopf an der Decke. "Au... Uh, da muss ich mich erstmal dran gewöhnen..." nuschelte sie und rieb sich die gestoßene Stelle. "Am besten krabbelst Du hier nur auf allen Vieren rum, dann passiert das gar nicht erst." grinste ihr Bruder. "Schau, hier vorne." er rutschte geschickt über den Boden zu dem Platz von dem aus man die Luke am besten öffnen konnte. Decke und Boden bildeten zusammen geschätzerweise einen Winkel von 40°, es war also ziemlich eng. Für den seltenen Fall, dass man mal aufs Dach müsste, dachte Etienne, reichte das aber auf jeden Fall aus. Außerdem konnte man die Fläche so noch anders benutzen. Vielleicht für eine kleine Kleidertruhe oder ein niedriges Regal. Er robbte auf seinen Ellenbogen weiter und werkelte an dem Verschlussriegel herum. Mit einem lauten Quietschen schob er ihn zurück und drückte die Luke nach Außen auf. Einige Blätter fielen ihm entgegen und verirrte Sonnenstrahlen schienen auf sein Haar, das im plötzlichen Wind zu wehen begann. "Ist das nicht grandios hier? Eigentlich wollte ich versuchen die Luke als praktisches Gimmick zu verkaufen... Weil man ja auch mal alte Blätter herunterfegen muss. Aber ich glaube das ist auch ein ganz netter Ort zum Entspannen hier, so versteckt zwischen den Ästen und Blättern..." Er klappte die Luke komplett nach Außen auf und kroch hinaus. Eli starrte ihm verwirrt hinterher. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie ihn seit einigen Minuten schon so angesehen hatte.
"Äh, Etienne..?" rief sie ihm hinterher.
"Komm schon raus, es ist echt schön hier!"
Sie schüttelte den Kopf und versuchte sich einzureden, dass sie es sich nur eingebildet hatte, dann kletterte auch sie aufs Dach hinaus. Dort setzte sie sich neben ihren Bruder, traute sich aber nicht ihn anzusehen.
"Und?" fragte er.
"Hmmm."
"Was ist?"
"Mmhhhh." ihr Blick huschte hin und her, aber sie sah ihn noch immer aus den Augenwinkeln.
"Eli... Ich erwarte euphorische Freude! Also... das ist der Moment wo Du mich mit Dankeshymnen überschütten solltest!" er stubste sie sanft an die Schulter. Ruckartig drehte sie sich zu ihm, aber ihr jetziger Ausdruck verwirrte ihn. Ihre Augen waren vor Aufregung geweitet, doch ihre Brauen zusammengezogen und ernst.
"Es ist alles absolut wundervoll, Etienne! Ich liebe dieses Haus, es ist grandios, fantastisch, umwerfend, einfach perfekt! Aber..." ihr Blick wanderte von seinen Augen zu seinen Ohren und sie sog scharf die Luft ein: "...warum hast Du spitze Ohren?!"
Er erwiederte ihren Blick einige Momente, dann brach er in Gelächter aus.
"Was redest Du denn da?" er hielt sich den Bauch vor Lachen. "Spitze Ohren, was hast Du gefrühstückt? Oder bist Du dem komischen Pilz zu nahe gekommen?"
Wütend boxte Eleonora ihm gegen die Schulter. "Du Idiot! Fühl doch einfach mal oder schau Dich im Spiegel an!" grimmig verschränkte sie die Arme und wandte sich ab. Sie drehte den Kopf weg, so dass ihre offenen Haare ihr über die Schulter fielen.
"Sagt die, die sich heimlich die Haare gefärbt hat. Steht Dir aber!" er zog ihr leicht an einer Haarsträhne, dann hob er reflexartig die Hand um sein linkes Ohr zu betasten.
"Haare gefärbt?" erst jetzt sah sie, dass ihre Haarspitzen in ein sanftes Grün verliefen.
"Was um alles in der Welt..." verblüfft strich sie alle Haare auf einer Seite nach vorn und starrte sie an. Im selben Moment kam ein erstickter Schrei aus Etiennes Richtung.
"Eli, meine Ohren sind spitz!"
Sie sahen sich mit großen Augen an.
"Eli, verdammtnochmal, Deine Ohren sind AUCH spitz!"
Etiennes Stimme hatte sich im Verlauf der letzten Momente immer weiter gehoben, inzwischen schrie er fast. "Ich glaub ich werd wahnsinnig!" rief er, sprang auf und hastete ins Baumhaus zurück. Eli folgte ihm so schnell sie konnte, genauso schockiert und überrascht, wie ihr Bruder.
Im unteren Teil des Raums angekommen fand sie ihn in seiner Tasche wühlend vor. Er holte einen kleinen, runden Gegenstand heraus und hob ihn hoch. Ihr fiel gar nicht auf, dass es irgendwie komisch und untypisch war, dass er einen Handspiegel dabeihatte, aber das ignorierte sie in dem Augenblick. Etienne starrte sein Spiegelbild an und zupfte sich an den spitz zulaufenden Ohren. "Das ist doch unmöglich. Wie kann sowas passieren? Eli, seit wann ist das so? Das muss an dieser komischen Welt hier liegen. Wieso ist mir das noch nicht vorher aufgefallen?" die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus.
Eleonora stand derweil einfach so herum und ließ ihren Gedanken freien Lauf.
Eigentlich fand sie es ziemlich cool, dass sie nun solche Ohren hatte. Das musste doch heißen, dass sie irgendeine Art Elfe war... Oder?
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Etienne saß alleine auf dem Steg und starrte gedankenversunken ins Wasser. Eleonora lag in der Mitte der Lichtung auf der Wiese und beobachtete die Wolken. Wenn Flämmchen jetzt hier wäre, hätte sie sicher entweder irgendwelche Informationen oder zumindest eine bissige, aufheiternde Bemerkung parat. Obwohl sie im Grunde gar nicht so schockiert war. Überrascht, natürlich. Aber sie fasste die ganze Situation deutlich positiver auf als ihr Bruder, der im Moment lieber alleingelassen werden wollte um in Ruhe über alles nachdenken zu können. Wahrscheinlich dachten sie beide gerade sowieso über das Gleiche nach. Wieso veränderte sich ihr Aussehen in dieser Welt? Betraf es speziell nur sie beide oder wandelten sich alle hier? Möglichkeit zwei, wurden dann alle nur zu so einer Art Elfen oder gab es da wiederum Unterschiede? Moglichkeit eins - und da wollte sie eigentlich am wenigsten drüber nachdenken - wenn die Veränderung nur sie betraf, lag es dann in der Familie? Waren ihre Mutter und Großmutter auch beide Elfen? Waren sie überhaupt Elfen? Was war sie, wenn sie kein Mensch war?
"Urgh, Blahhhh!" rief sie, schnaufte laut, drehte sich um und drückte ihr Gesicht in die weiche Wiese.
"Ja, ich bin ungefähr genauso weit gekommen." Etienne war vom Steg zurückgekommen und ließ sich jetzt neben sie fallen. "Zu viele Informationen. Overload error... Wollen wir zurückgehen und Ma fragen, was sie weiß?"
Sie setzte sich auf und sah ihn müde an, das Gesicht voller geknickter Grashalme und Erdstückchen. Sie bot einen lustigen Anblick, so zerknirscht dreinblickend mit dem Farbverlauf in den Haaren, den spitzen Ohren und dem schmutzigen Gesicht.
"In Wirklichkeit bist du keine Elfe sondern ein Kobold oder Org oder sowas." lachte er. Sie boxte ihm wieder gegen die Schulter. "Du Arsch. Aber ich finde auch, das wir nach Hause gehen sollten. Wir brauchen Antworten und die finden wir nicht hier. Zumindest nicht in diesem Moment."
Er brummelte zustimmend, stand auf, half ihr hoch und räumte zügig die Umgebung auf. Die Strickleiter rollte er mit einem speziell dafür angefertigten Gerät auf (eine Art Teleskopstange), welches er danach zusammenschob und in seinen Ruckstack packte. Sie machten sich gemeinsam auf den Rückweg und versuchten sich geistig auf die kommenden, möglicherweise erschütternden Informationen einzustellen.