Kapitel 1: Wie alles begann: Eine Freundin
"Mama, die Mädchen in meiner Klasse sind alle total doof..." jammerte Eleonora, als sie nach ihrer ersten Schulwoche ihrer Mutter berichtete, wie es ihr so gefallen hat.
"Die denken alle nur an Puppen und Spielen und... Essen und Schlafen... Die sind wie irgendwelche gruseligen, besessenen Tiere..."
"Schätzchen, so sind die meisten Mädchen in Deinem Alter eben, ist denn wirklich keine da, mit der Du Dich gut verstehst?"
"Naja, ein oder zwei sind ganz okay und die Jungs sind auch ganz in Ordnung, aber die haben alle so andere Interessen. Bin ich komisch?"
"Ach, so darfst Du gar nicht erst anfangen. Es ist doch erst eine Woche um, ihr werdet mit der Zeit noch zusammenwachsen!"
Seufzend lehnte sich Eleonora zurück und schaukelte abwesend in der Hollywoodschaukel auf der Veranda hin und zurück.
"Zusammenwachsen? Du meinst... so wie der Efeu und eine Wand?"
Eleonoras Mutter lachte:"Ja, so in der Art. Mach Dir einfach nicht zu viele Gedanken darüber, Schatz. Mit der Zeit werdet ihr euch alle ganz gut verstehen und vielleicht denkst Du ja dann schon ganz anders über die Mädchen. Ihr müsst euch erstmal besser kennenlernen, dann findest Du auch schon Gemeinsamkeiten."
"Na gut. Wenn Du das sagst, Mama." entgegnete Eli mit einem schiefen Grinsen und sprang auf:" Ich geh in den Garten!"
Gedankenversunken schaute ihre Mutter Eleonora hinterher, wie sie hüpfend den Natursteinweg überquerte und durch einen Busch hinter dem Haus verschwand, und fand es schon beinahe gruselig wie ähnlich ihr Spross ihr war. Sie erinnerte sich daran, wie sie damals, als junges Mädchen nie Anschluss gefunden hatte in ihrer Klasse. Es war zwar nie so, dass jemand sie gemobbt oder wirklich etwas gegen sie hatte, doch genausowenig waren sie mit ihr befreundet gewesen. Sie hatte sich anfangs so sehr wenigstens eine gute Freundin gewünscht, sich dann aber doch mit der Situation abgefunden.
Noch mehr als damals, wünschte sie sich heute für ihr Kind, dass es für sie anders verlaufen würde. Dass sie viele Freunde finden würde und so kein Leben als Einzelgängerin führen müsste, bis sie irgendwann als Erwachsene erst wirkliche Gleichgesinnte traf.
Seufzend stand sie auf und hatte im selben Moment schon ihre Entscheidung getroffen. Sie wusste es zwar noch nicht, doch diese Entscheidung würde ihrer aller Leben verändern.
In der Stadt angekommen überlegte sie, in welchem Laden sie wohl das Richtige finden könnte.
Ein herkömmlicher Spielzeugladen vielleicht? Aber dort war alles so gleich und austauschbar. Die Barbies von heute hatten einfach keinen Charme mehr, mit ihren ultraschlanken Taillen und den ausdruckslosen, zusammengequetschten Schminkgesichtern. Hätte es in ihrer Kindheit schon Barbies gegeben, hätte sie diese mit Sicherheit für ihre Tochter aufgehoben, dann hätte sie heute nicht durch die Geschäfte wandern und sich den ganzen Plastikschund ansehen müssen, den sie heute so verkauften. Aber damals gab es wenn überhaupt nur normale Babypuppen, solche die sie heute "Annabelle" nennen, nur ohne Batteriefach im Rücken und ohne Brabbelfunktion, und aus diesem Alter war ihre Eli dann nun doch schon rausgewachsen.
Tief in ihren Gedanken versunken, hatte sie gar nicht mitbekommen, wie sie zu dem alten Antiqitätengeschäft gelangt war. Plötzlich stand sie davor und spürte das dringende Bedürfnis einfach mal einen Blick hineinzuwerfen. Sie glaubte zwar kaum, dass sie dort eine hübsche Puppe finden würde, mit der sie Eli vielleicht überzeugen konnte, dass Mädchen, die mit solchen spielen, eigentlich gar nicht so doof waren, wie sie dachte, aber sie hatte ja Zeit.
Oma Alwine war vorbeigekommen und passte auf, dass Eleonora nicht verschwand oder von einem plötzlich auftauchendem Ufo entführt wurde. Bei diesem Gedanken schüttelte sie leicht den Kopf, Eli würde niemals einfach so verschwinden, außer vielleicht in einem gerade gebuddelten Erdloch oder einer verworrenen Hecke in die sie ein ahnungsloses Rotkehlchen verfolgte und Ufos gab es doch sowieso nicht.
Sie öffnete die alte, mit liebevollen Details verzierte Tür und betrat den verwunschenen Laden.
Das Klingeln der Türglocke und der Geruch der alten Möbel und Gegenstände empfing sie eigenartig nachdrücklich, als wenn schon lange niemand mehr hier gewesen wäre und jegliches Objekt sie geradezu auffordern wollte ihm ein neues Heim zu schenken. Sie liebte die kunstvoll gefertigten Jugendstilmöbel, das alte Himmelbett aus der Gründerzeit mit den original wirkenden Bettlaken und Vorhängen und die ganzen anderen Dinge. In diesem Laden war sie früher öfter gewesen. Hier fühlte sie sich eigenartig wohl, so als wäre sie in dem Verkaufsraum nicht mehr in der Realität, sondern in einer anderen, faszinierenden, in der Zeit stehen gebliebenen, irgendwie magischen Welt.
Es war niemand an der Theke, also ging sie weiter durch den Laden, in den großen Lagerraum. Ob wohl der alte Robert noch lebte? Er war früher immer hier gewesen.
Auf einer kleinen, weiß lackierten Kommode sah sie eine dort deplaziert wirkende Schmuckschatulle stehen und streckte ihre Hand danach aus.
"Überlege gut, ob Du das wirklich tun willst, Cecilia."
Robert war lautlos hinter ihr aufgetaucht was sie so erschreckte, dass sie beinahe gegen die Kommode gestoßen wäre. "Wie schön Dich wiederzusehen, Robert!" sagte sie erfreut.
"Was denn, dachtest Du etwa ich trete einfach so ab? Du kennst mich doch, ich bin zäh." sagte er und grinste verwegen, wodurch sein altes, faltenreiches Gesicht aufleuchtete und erahnen ließ, das er als junger Mann bestimmt mal bestes Ansehen in der Damenwelt genossen hatte.
"Was meinst Du damit, >überlege gut, ob Du das wirklich willst<?" fragte Cecilia und behielt ihre Gedanken für sich.
"Ich meine damit, dass Du mit einem Wunsch hierhergekommen bist und Dir überlegen sollst ob Du Dir damit scher bist. Ich denke, ich muss Dir nicht erzählen, dass mein Laden ein ganz besonderer ist, oder?" Er ging zu der Kommode und schob die Schatulle näher in ihre Richtung.
"Ja... Also, äh, nein. Aber... Ich glaube ich verstehe immer noch nicht."
"Nunja. Diese Schatulle war bis vorhin noch nicht hier. Sie standt plötzlich auf der Kommode, als Du durch die Eingangstür getreten bist. Das ist ein Zeichen."
"Du willst mich verulken, Robert. Nun erzähl schon was los ist."
"Verulken? Generell bin ich dem Spaß nicht abgeneigt, aber das gerade meinte ich doch schon ernst. Hier, nimm die Schmuckdose mit. Sie darf aber nur von der Person geöffnet werden, für die sie gedacht ist, denk daran." sagte er und drückte ihr das Holzobjekt in die Hände.
Verwirrt stand sie da und sah dem alten Engländer hinterher, der sich langsam aus dem Raum bewegte.
Sie folgte ihm und ging an die Theke.
"Okay, was bekommst Du dann von mir?" fragte sie und kramte in ihrer Handtasche nach ihrem Portemonnaie.
"Oh, Cecilia, ich habe doch gesagt, nimm sie mit. Sie kostet Dich nichts. Es war sehr schön, Dich nach der langen Zeit nochmal zu sehen, jetzt solltest Du sie aber nach Hause bringen. Ich habe hier auch noch einiges zu erledigen. Vielleicht sieht man sich ja nochmal wieder..." lächelte er, drückte ihre Schultern und ging wieder in den Lagerraum zurück.
"Äh.. Ich... Danke, Robert! Ich bringe das nächste Mal meine Eli mit! Hab noch einen schönen Tag, bis bald!" rief sie und verließ immer noch verblüfft den Laden.
"Sie nach Hause bringen. Sie, die Schatulle?" sinnierte sie vor sich hin. Hin- und hergerissen zwischen Neugier und Furcht betrachtete sie die kleine Holzkiste. Was wohl darin war? Was er wohl meinte mit seinen eigenartigen Andeutungen? Sie fühlte sich plötzlich wie in einem Fantasyroman, mit verwunschenen Truhen, Zauberern, Elfen und Einhörnern. Ob in der Schatulle eine Fee war?
Im gleichen Moment machte sie sich schon wieder lustig über ihre eigenen abwegigen Gedanken. Sie glaubte zwar an übersinnliche Dinge, wie das Schicksal oder gute und böse Geister, aber Feen? Das war dann doch etwas zu viel Fantasy.
Erführchtig hielt sie den Gegenstand vor sich und betrachtete ihn. Wenn Robert recht hatte und nur die Person, für die der Wunsch war, dieses Ding öffnen durfte, dann müsste Eleonora es tun.
Behutsam legte sie die kleine Kiste in ihre Tasche und machte sich auf den Heimweg.
Zu Hause angekommen fand sie Alwine und Eleonora zusammen, wie erwartet, im Garten vor. Ihre Mutter saß auf der Terasse in einem alten Schaukelstuhl und las ein Buch und ihre Tochter wühlte fleißig in einer Ecke des hinteren Blumenbeetes. Es war nun langsam aber sicher Herbst geworden und die Zwiebeln ihrer geliebten Gladiolen mussten über den Winter aus der Erde und bis zum nächsten Frühjahr kühl und dunkel gelagert werden.
Schon seitdem sie laufen konnte, war Eleonora mit ihr in den Garten gekommen und hatte ihr begeistert und voller Elan beim Gärtnern geholfen. Anfangs bestand diese Hilfe noch daraus, wie wild Löcher in die Erde zu buddeln, die viel zu tief zum Zwiebeln einpflanzen waren, so dass jedes Mal eine Diskussion entstand, warum ausgerechnet dieses Loch nun schon wieder halb zugeschüttet werden musste, die dann darauf hinausliefen das Eli mit grimmigem Gesicht das ganze Loch wieder zuschüttete und die ganze Arbeit im Grunde umsonst gewesen war (damals war sie zwei gewesen).
Das stellte sich dann aber ziemlich schnell wieder ein, denn sie entwickelte im Nu ein Gefühl für Pflanzen und alles was dazugehört. Und so war es gekommen, das ihre Tochter nun schon seit vier Jahren immer mehr im Garten werkelte.
"Hey, ihr beiden. Das sieht ja richtig gemütlich aus, was ihr hier treibt." begrüßte sie die zwei. Ihre Mutter lächelte sie liebevoll an und widmete sich dann wieder ihrem Buch, von Eleonora hörte sie nur ein "Hmf...". Sie hatte sie wahrscheinlich in ihrem Eifer gar nicht gehört.
In der Küche packte stellte sie ihre Einkaufstaschen auf die Arbeitsfläche und begann mit dem Auspacken. Wenn sie schon in der Stadt war, kaufte sie auch immer gleich noch etwas ein.
Nachdem sie alles eingeräumt hätte widmete sie sich der mysteriösen Schatulle aus dem Antiquitätengeschäft und fragte sich erneut was es damit wohl auf sich hatte. Jetzt, wo sie wieder ein bischen mehr bei sich war, konnte sie sich das Teil ja mal genauer ansehen. Sie war relativ groß für eine Schmuckschatulle, aber trotzdem sehr leicht. Ihr Holz war sehr dunkel und glänzend lackiert, sie vermutete, dass es sich vielleicht um Mahagoni handelte, und mit wunderschönen, fein gearbeiteten Beschlägen verziert, die mit der Zeit dunkel angelaufen waren. Wie alt die kleine Truhe wohl war?
Auf der vorderen Seite war am unteren Rand mittig der Name "Seraphine" in einer alten Schnörkelschrift eingraviert worden. Sie hatte wohl mal jemandem dieses Namens gehört, vermutete Cecilia. Wie sie wohl gewesen war, diese Seraphine? Vielleicht hatte sie ja mit Eli Ähnlichkeit und die Schatulle war deswegen "plötzlich aufgetaucht", weil sie beim Betreten des Geschäftes über ihre Tochter nachgedacht hatte.
"Machst du uns einen Kaffe, Schatz?" fragte ihre Mutter von der Terasse.
"Was...?" Cecilia war schon wieder so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie die Frage erst gar nicht verstand. "Kaffe. Dunkle, genussbringende Flüssigkeit. Gewonnen aus Kaffebohnen. Am liebsten versetzt mit etwas Milch und zwei Stücken Zucker. Weißt Du noch was Milch und Zucker sind?" Ihre Mutter war eine Freundin der gepflegten Ironie. Vor allem sie pflegte sie oft und gerne.
"Jaja, Kaffe. Gute Idee. Moment..." stammelte sie zurück. Und einen Kakao für Eli, fügte sie in Gedanken hinzu.
Ein paar Minuten später kam sie mit einem Tablett auf dem sich Kaffekanne, Milchkännchen, Zuckerdose, Süßstoffspender, Tassen und Löffel befanden, nach draußen und stellte es auf dem Gartentisch ab.
"Kuchen?" grinste sie.
"Kuchen?" kam es aus der Ecke. Sie wusste mit welchen Begriffen sie die Aufmerksamkeit ihrer Tochter erlangen konnte.
Nachdem sie zusammen die kleine Pause und vor allem Kaffe und Kuchen genossen hatten, machte sich Alwine wieder auf den Weg zu ihrem eigenen Haus, welches nur ein paar Meter entfernt, am Waldrand, lag.
Bevor Eleonora wieder verschwinden konnte, sagte Cecilia: "Schatz, wenn Du gleich fertig bist, habe ich etwas für Dich. Komm dann bitte ins Wohnzimmer."
"Was denn?"
"Eine Überraschung."
"Was ist denn die Überraschung?"
"Eli..."
"Jaja, schon gut. Ich komm gleich, nur noch eben die letzten Zwiebelchen."
Nach anderthalb Stunden "letzten Zwiebelchen" hüpfte Eli durch die Küche und den Flur ins Badezimmer und wusch sich die Spuren der erledigten Gartenarbeit ab.
"So, Mama. Hier bin ich." Sie nahm Anlauf und hüpfte über die Lehne der Couch an die Seite ihrer Mutter. Die Schatulle stand schon auf dem Wohnzimmertisch.
"Was ist denn das da?" fragte sie und zeigte auf den Gegenstand.
"Das... ist die Überraschung von der ich sprach." erwiderte Cecilia.
"Hä? 'Ne Kiste? Und was ist darin?" Eli war sichtilich erstaunt. Aber nicht halb so erstaunt wie Cecilia vorher im Geschäft und die ganze restliche Zeit danach gewesen war.
"Oh, das ist eine lange Geschichte. Soll ich...?"
"Na klar, Geschichten sind immer toll!" freute sich Eleonora.
So saßen sie eine ganze Stunde zusammen auf dem Sofa und Eli hörte ihrer Mutter gespannt beim Erzählen des Geschehenen zu.
"Ha, Du hast ja eine Fantasie, Mama. Du solltest Bücher schreiben." lachte Eleonora nachdem Cecilia zu Ende erzählt hatte.
Natürlich würde sie ihr nicht glauben. Dafür war sie viel zu bodenständig. Überhaupt würde ihr das wohl niemand glauben außer Robert... Der ja dabei gewesen war.
"Okay, Süße. Es gibt wohl nur eine Möglichkeit herauszufinden ob ich die Wahrheit sage oder nicht." antwortete sie und hob das Schmuckkästchen hoch auf ihren Schoß.
"Stopp, Mama. Der Mann hat doch gesagt, das nur ich das darf, oder?" Eli schnappte ihr die kleine Holzkiste aus der Hand. Warum bloß war ihr Kind genauso frech geworden wie sie? Verdammte Gene.
"Wer ist Seraphine?" fragte sie, als sie die Inschrift auf der Vorderseite las.
"Ich weiß es nicht, ich vermute, dass das Mädchen, dem es früher einmal gehört hat vielleicht so geheißen hat."
"Hm."
Das war Eleonoras Lieblingsantwort, wenn sie nicht wusste, was genau sie nun erwidern sollte, aber trotzdem irgendwas von sich geben wollte.
"Und, willst Du sie nicht öffnen?"
"Mh."
Ihre zweitliebste Antwort. Sie war wohl noch unschlüssig.
"Komm, ich bin auch schon ganz gespannt. Was sollte schon passieren? Wir werden wohl kaum hineingesogen und in einer Parallelwelt landen."
"Mpf."
So langsam wurde Cecilia ungeduldig.
"Was ist denn, Schatz?"
"Ich weiß auch nicht. Das Ding hat so eine eigenartige..."
"Ausstrahlung?"
"Genau."
Sie starrte die Schatulle noch ein paar Minuten an und hob sie dann nah vors Gesicht.
"Was... wenn da irgendein Geheimnis von dem Mädchen drin ist, was sie extra darin versteckt hat, damit es niemand findet?"
Oh, diese Kinder. Was um alles in der Welt sollte sie jetzt darauf antworten. Das die kleine Seraphine wohl schon lange tot sei, so alt wie die Kiste aussah? Nein, die anschließenden Fragen und Erklärungsversuche über Leben und Tod, Himmel und Hölle und alles andere, was nur im entferntesten damit zu tun hatte, wollte sie sich für heute wirklich ersparen.
Das das doch egal sei? Erziehung gescheitert. Man bringt doch seinem Kind nicht bei, dass die Privatsphäre und Geheimnisse anderer unwichtig seien.
"Ähm... also..." stammelte sie.
"Hm. Ja, Du hast ja recht. Wenn sie die verkauft hat, wird wohl sowas nicht drin sein."
Puh, da hatte sie aber grade nochmal die Kurve gekriegt.
"Hast Du denn den Schlüssel?" fragte Eleonora.
"Schlüssel?" Das durfte doch nicht wahr sein. Schlüssel, was für ein Schlüssel? Verdammtnochmal.
Sie probierten alles. Knibbeln, ziehen, kläglich scheiterndes Aufstemmen mit einer Plastikkarte. Auch die aufgebogene Heftklemme half nichts.
Grübeld saßen sie zusammen über dem geheimnisvollen Gegenstand.
Eli knibbelte wieder an dem Verschluss. Nichts geschah.
"Vielleicht mal anklopfen, Mama" fragte sie, mehr als Scherz als wirklich daran glaubend.
"Kann ja nicht schaden..."
Eli klopfte mit den Nagel ihres Zeigefingers gegen den Deckel der Truhe.
Nichts geschah. Natürlich.
Eli warf sich enttäuscht schnaufend in die Sofakissen: "Mrpf!".
"Ach Schatz, dann geh ich einfach morgen nochmal zu Ro-"
Es machte "klack" und die Schmuckdose stand plötzlich einen kleinen Spalt breit offen.
Sie starrten beide mit großen Augen auf das Bild das sich ihnen nun bot.
Licht. Der Spalt... Was auch immer darin war... Es leuchtete!
Sie schauten sich gegenseitig an, Eli nickte und rutschte vom Sofa auf den Boden, um von dort aus besser auf die Schatulle schauen zu können.
Ganz vorsichtig klappte sie den Deckel nach hinten und staunte über den Inhalt.
In dem Schmuckkästchen lag ein, in Stoffstücke gewickeltes, kleines, schlafendes Wesen.
"Mama... träum ich?"
"Nein. Nein, das... Ich sehe es auch!"
Von den Stimmen geweckt, rollte sich das Geschöpf von der einen auf die andere Seite, gähnte und grummelte etwas vor sich hin. Als es sich nach kurzer Zeit aufsetzte und die beiden brummig ansah, erkannten Eleonora und Cecilia, dass es sich um ein winziges Mädchen handelte. Sie sah aus, wie eine kleine Puppe. Die beiden starrten sie nur an.
"Was willst Du?" fragte die kleine Person Eleonora schroff.
"Äh."
Viel mehr wäre Cecilia auf diese Frage wohl auch nicht eingefallen.
"Du willst mir etwas böses!"
Der Blick des Mädchens verdunkelte sich und ihre Taillenlangen roten Haare fingen an zu schweben. Aus dem Schweben wurde nach wenigen Sekunden ein Flackern und plötzlich stand sie in Flammen.
"Oh Gott!" riefen Eleonora und Cecilia gleichzeitig aus.
"Sie brennt, Mama, sie brennt, schnell, Wasser!"
Zum Glück stand neben ihr ein Glas Sprudelwasser. Blitzschnell fasste sie es und leerte den Inhalt über dem flammenden Geschöpf.
Prustend und schimpfend kletterte sie aus dem Kästchen und schüttelte sich.
"ARGH! Verdammt, gehts noch???" krähte sie.
"Ich dachte... Ich... Du hast gebrannt!" erwiederte Eleonora.
"Ja, ach nein. Du Schlaumeier!" trotzig verschränkte sie die Arme.
"Hä?"
"Du bist ja ein richtiges Sprachtalent. Meine Güte, noch nie eine Candelatia gesehen?"
Eleonora schaute sie fragend an.
"Im ernst? Wo um alles in der Welt bin ich?"
Eli erzählte ihr von ihrem Haus, der Stadt, dem Land und dem Kontinent in dem sie lebten.
"Okay... Und... wann bin ich?" fragte sie nun, ihr Ton war nun von Wut zu sich anbahnender Verzweiflung gewechselt.
Die Antwort stimmte das Mädchen sichtlich traurig. Sie erzählte von ihren Eltern und Geschwistern, die sie wohl jetzt nicht mehr wiederfinden würde, weil die Zeit sie auseinandergetragen hatte.
Eleonora und Cecilia hörten ihren Erzählungen mitfühlend und gespannt zugleich zu. Die Kleine hatte anscheinend niemanden mehr.
"Gut, genug geredet, warum bin ich denn hier?"
Eleonora blickte zu ihrer Mutter.
"Nun..." entgegnete Cecilia. "Ich war eigentlich auf der Suche nach einer Puppe für Eli... Und habe dabei darüber nachgedacht wie sehr ich mir eine Freundin für sie wünsche..."
"Oh. Dann.... darf ich hier bleiben?" Mit dieser Antwort hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.
"Ja klar!" Eli hob sie begeistert hoch und hüpfte mit ihr durch die Gegend.
"Eli, vielleicht.. E- Vorsicht!" rief Cecilia ihr hinterher, kam mit ihrer Warnung aber zu spät, denn Eleonora war in ihrer Freude direkt über ihre Gummistiefel gestolpert und hingefallen.
Das kleine Kerzenmädchen hatte sie schützend in ihren Händen verborgen.
"Alles gut bei euch beiden?" fragte ihre Mutter besorgt.
"Ach, die paar blauen Flecken.." antwortete ihre Tochter und grinste verlegen.
"Und bei Dir, äh... wie heißt Du denn eigentlich?" wandte sich Cecilia nun an den Familienzuwachs.
"Mir gehts gut. Alles gut. Mein Name ist Seraphine."